Von Indrajit Joachim Vogt
Ausbeutung
“Heute besitzen 1% der Reichsten genau so viele Vermögenswerte wie 99% der Erdbewohner. […] Wollen wir die kannibalische Weltordnung weiterhin ertragen, in der die Oligarchen des globalisierten Finanzkapitals über Hunderte von Millionen im Elend lebender Menschen herrschen?”
Aus dem Klappentext des Buches “Ändere die Welt” von Jean Ziegler,
ehem. Sonderberichterstatter der UN.
Ausbeutung?!?
Die Überwindung von Armut und sozialem Elend überall auf der Welt ist ein zentrales Anliegen des Sarkar’schen Neohumanismus. Doch anstatt Armut und ihre Ursachen als ein abstraktes und irgendwie schwer begreifliches Phänomen darzustellen, wie dies in akademischen Diskussionen oft getan wird, nennt Sarkar die Dinge beim Namen und spricht im Zusammenhang mit Armut immer wieder von Ausbeutung. Ein Begriff, der aus der öffentlichen Diskussion im Westen weitgehend verschwunden ist.
Alle wollen doch nur das Beste
Wer unter duden.de nach “Ausbeutung” sucht, findet quasi nichts Inhaltliches dazu. Wikipedia beschreibt in akademischer Ausführlichkeit das Wort im historischen marxistischen Kontext. Am Ende des langen Wikipedia-Artikels ein Satz zu Kinderarbeit in den Erzminen im modernen Afrika …
Kurz, die Vorstellung von Ausbeutung als eine wesentliche Ursache für die stetig wachsende soziale Ungleichheit und für die verheerende Armut weltweit wird erfolgreich aus dem öffentlichen Diskurs in die Geschichtsbücher verbannt.
Denn Ausbeutung impliziert das Vorhandensein von Schuldigen und Verantwortlichen und von Nutznießern der Armut und das passt nicht ins moderne Weltbild, nach dem wir doch im “richtigen” System leben, in dem Freiheit und Vernunft herrschen. In dem “die da oben” es doch grundsätzlich gut meinen.
In Wahrheit ist ein großer Teil der weltweiten Armut zurückzuführen auf die ungehemmte Ausbeutung von Bodenschätzen und billigen Arbeitskräften, auf die Vernichtung ortsansässiger kleiner und mittlerer Industrien sowie auf die unaufhörlich weiter wachsende Vermögenskonzentration in Händen der Ultra-Reichen.
Arm, mitten im Reichtum
Natürlich ist Armut längst auch in den Industrieländern tägliche Realität. Bettler und Flaschen sammelnde Rentner in den Großstädten, Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Schlangen an den Tafeln, Bildungsnotstand. 2022 ist jedes fünfte Kind in Deutschland arm und der Armutssockel wächst weiter.
Mit ihm die Staatsschulden, denn die Folgeschäden der Vermögensumverteilung von unten nach ganz oben – ein Wesensmerkmal des heutigen Wirtschafts- und Geldsystems – muss durch den Staat zumindest teilweise kompensiert werden.
So entsteht dann auch öffentliche Armut: kein Geld für dringende Investitionen in das Verkehrsnetz, Bildungswesen, in Zukunftsaufgaben aller Art. Ein Teufelskreis der Armut. Unterdessen nimmt die Zahl der Millionäre und Milliardäre weiter zu (2022 hat Deutschland 200 Milliardäre).
Gleich, wie man diese systembedingte Armutserzeugung nennt – ungerecht, sozial ungleich oder ausbeuterisch – sie blockiert einen humanen sozialen Fortschritt. Sie schürt weltweit Konflikte, Hass, Grobheit, Gewalt und Spaltung.
Sie führt für Millionen direkt in soziale Not, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Ohne ein faires, partizipatorisches Wirtschaftssystem werden Gewalt und Elend nie ein Ende finden.
Zahnlose Kritik
Die Diskussionen über Armut sind meist oberflächlich und einseitig. Oberflächlich, weil sie über kosmetische Verbesserungsvorschläge nicht hinaus gehen: Steuern erhöhen, Schlupflöcher stopfen, Entwicklungs-/Sozialhilfe aufstocken…
Einseitig und lähmend, weil sie sich stets innerhalb des Systems bewegen: Steuern erhöhen? Geht nicht, weil Kapital dann abwandert. Entwicklungshilfe bleibt sowieso in dunklen Kanälen stecken… usw. usf. Das sind Scheindiskussionen, die vom Kern des Problems ablenken.
Das globalisierte System der Geldherrschaft wird quasi als gottgegeben vorausgesetzt, als einzig mögliche Art zu wirtschaften. Dabei gibt es Lösungen nur jenseits des Tellerrands.
Nach 250 Jahren Kapitalismus darf man ruhig einmal konstatieren: Dieses System ist unfähig die elementaren Bedürfnisse der Menschen – körperlich wie geistig – zu addressieren. Zeit für Neues! Lies dazu bitte auch das Kapitel über PROUT.
„Keine Unterwerfung ist so vollkommen wie die, die den Anschein der Freiheit wahrt. Damit lässt sich selbst der Wille gefangen nehmen.“ — Jean Jacques Rousseau
Psychoökonomische Ausbeutung
Ökonomische Ausbeutung braucht Begleitmaßnahmen von Unterdrückung und Zwang, denn freiwillig lässt sich niemand ausbeuten. In der Vergangenheit marschierten die Armeen der Kolonialmächte offen und ohne schlechtes Gewissen durch die Welt, heute sind die Mittel vielfach subtiler geworden.
Die finanziellen Druckmittel wurden bereits beschrieben. Sarkar fasst diese Methoden unter dem Begriff “politökonomische Ausbeutung” zusammen und das letzte Mittel ist immer physische Gewalt. Doch Ausbeutung hat meist auch eine psychische Komponente. Sarkar nennt dies psychoökonomische Ausbeutung. Und auch die hat eine lange Tradition.
Gefühlte Minderwertigkeit als Mittel zum Machterhalt
Ein gesundes Selbstwertgefühl ist die Grundlage für ein erfolgreiches Leben. Umgekehrt stärkt Erfolg im Leben das Selbstwertgefühl.
Fehlende Entwicklungsmöglichkeiten hingegen, Unfreiheit und dauerhafte Erniedrigung schwächen es und rauben dem Leben seine Kraft – auch die Kraft sich gegen Ausbeutung zu wehren. Dies ist seit jeher eine Waffe für die Ausbeuter von gestern und heute.
Die Jahrhunderte währende Macht der Kirche und des Adels oder auch das indische Kastenwesen basierten auf der tiefen Überzeugung der Unterschichten, sie seien per Geburt minderwertig oder sündhaft. Das wurde ihnen von einem listenreichen Klerus als das Wort Gottes verkauft. Die uralte Tradition wirkt bis heute fort.
Im Kolonialismus wurde den unterdrückten Völkern klar gemacht, sie seien Menschen zweiter Klasse, ihre Kultur, Traditionen und ihr Aussehen seien minderwertig.
Heimische Sprache und Dialekte wurden verboten, ebenso wie Lieder und Tänze. Sie mussten in schäbigen Zugabteilen reisen, getrennt von den Kolonialherren in ihren komfortablen Waggons – tägliche Erniedrigungen, die bis ins letzte Jahrhundert hinein Bestand hatten und sich über Generationen hinweg in der Psyche einnisteten.
All das wurde gesetzlich verordnet und mit Gewaltandrohung durchgesetzt. Wollen sich derart Unterdrückte gegen Ausbeutung zur Wehr setzen, müssen sie zunächst Angst und Minderwertigkeitsgefühle überwinden.
Mit den Worten Sarkars: “Unter dem Einfluss von Gruppenmentalität (Soziosentiment) kommt es zu psychischer Ausbeutung. Menschen bekommen Minderwertigkeitskomplexe eingepflanzt und diese psychische Ausbeutung ist die Basis für andere Arten von Ausbeutung.” (aus “Die Befreiung des Denkens”, “Ausbeutung und Pseudokultur”).
Armut lähmt
Ein ähnliche Wirkung hat soziale Ungleichheit: ausweglose Armut, gerade auch in reichen Industriestaaten.
Denn Armut ist mehr als nur Besitzlosigkeit, sie ist ein soziales Stigma, das Minderwertigkeitsgefühle erzeugt, die Angst vor dem jederzeit möglichen sozialen Absturz, etwa durch den Verlust der Wohnung, inbegriffen.
Zukunftsängste sind ständige Begleiter für Menschen in prekären Lebensverhältnissen. Das ganze Leben wird von materiellen Sorgen beherrscht.
Die Sozialsysteme, die die Spitzen der Armut abfangen, bieten zwar in vielen Fällen ein gewisses Maß an Sicherheit, doch sie schaffen häufig auch Abhängigkeiten, die ebenfalls am Selbstwertgefühl nagen.
All dies zermürbt die Seele, einen gesunden Stolz und das Selbstbewusstsein um für die eigenen Rechte zu kämpfen.
Ungleich über Generationen
Ein Indikator für Aufstiegschancen innerhalb einer Gesellschaft ist die soziale Mobilität oder Durchlässigkeit. Nach einer Studie des Forscherteams Wilkinson und Picket aus 2009 korreliert ein Mangel an sozialer Mobilität in einem Land mit dessen sozialer Ungleichheit (Einkommen, Vermögen).
Das Beispiel Deutschland zeigt hier, dass die rein finanziellen Hürden beim sozialen Aufstieg wohl weniger entscheidend sind als andere Faktoren, ist doch die finanzielle Abfederung insbesondere der Hochschulbildung hierzulande besonders ausgeprägt.
Eher scheint es als ob die Schichtzugehörigkeit die elementaren Lebenseinstellungen, Denk- und Verhaltensweisen maßgeblich prägt. Schuster, bleib bei deinen Leisten.
(Aus: The Spirit Level, Wilkinson & Pickett, Penguin 2009)
Pseudokultur heute
Zunächst die Begriffsdefinition “Kultur”: Sie wird von Sarkar verstanden als die Gesamtheit der verfeinerten menschlichen Ausdrucksformen, die je nach sozialer Tradition und Umgebung variieren, angefangen bei etwa Essenskultur, sozialen Umgangsformen oder auch politischer Kultur bis hin zu Musik, bildender Kunst, Literatur und vielen weiteren Aspekten des Lebens und Zusammenlebens.
Diese Art von Kultur ist historisch gewachsen, sie formt regionale Identitäten und fördert Gefühle von Zugehörigkeit, Sicherheit, Solidarität und Heimat und dadurch eine natürliche Resilienz gegenüber äußeren Einflüssen.
Radikale Umwälzungen seit 1950
Es sind nun verschiedene Entwicklungen im letzten Jahrhundert, die gewachsene kulturelle Zusammenhänge weltweit massiv zerrüttet haben. Gleich nach dem zweiten Weltkrieg begann der Siegeszug anglo-amerikanischer Popkultur und des American Way of Life, die lokale Traditionen auf breiter Ebene überrollten.
Die Unterhaltungsindustrie à la Hollywood propagiert eine materialistische Lebensausrichtung und bietet mediale Dauerberieselung.
Dies alles geht Hand in Hand mit der ökonomischen Globalisierung, die eine Warenflut sondergleichen über die reichen Länder ergoss, erkauft mit den Rohstoffen und der Arbeitskraft der Armen und einem kolossalen Naturverbrauch. Den Turbo gab es dann dazu mit den digitalen Revolutionen der letzten Jahrzehnte.
Doch im modernen “digital lifestyle” ist nichts mehr “gewachsen”, ja nicht einmal demokratisch entschieden. Und kaum jemand kann sich dem heute noch entziehen, ohne zum Außenseiter zu werden. Der Turbo-Kapitalismus dringt bis in die letzten Winkel vor, nicht nur des gesellschaftlichen Lebens, sondern auch der individuellen Psyche.
Pseudokultur als Waffe
Um das weltweite Ausbeutungssystem aufrechtzuerhalten, muss die Bevölkerung in der Komfortzone gebunden werden. Das Seichte, Angenehme ist immer attraktiver als das Schwierige, Herausfordernde, doch es fördert Trägheit, geistige Unbeweglichkeit und Passivität.
Dauerkonsum – und es ist fast schon gleich, was genau konsumiert wird, ob billiger Schund oder “Kultur mit Anspruch” – ist immer einfacher und bequemer als selbst kreativ und aktiv zu sein. Diese menschliche Schwäche wird von Pseudokultur bedient.
Quellen über Armut
Ausführliche Dokumentationen und Zahlen zur weltweiten Armut liefert die N.G.O. Oxfam auf ihrer Webseite (oxfam.de). Auch Jean Ziegler, Schweizer Buchautor, ehemaliger Politiker und Sonderberichterstatter für die UNO beschreibt in seinen Büchern diese Vorgänge hautnah und ohne ein Blatt vorm Mund (s. Eingangszitat).
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Wir danken dem Autor für die Erlaubnis zur Veröffentlichung dieses Textes.
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Der Inhalt des Artikels entspricht der Meinung des Autors und nicht notwendigerweise der Meinung der Redaktion.
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