Gastbeitrag | November 8, 2021
Die Mobmoral
Noch immer versucht die Mehrheitsgesellschaft, Abweichler aus der Gesellschaft zu entfernen anstatt deren Impulse als Bereicherung zu empfinden.
Der amerikanische Vordenker, Mathematiker und Essayist Charles Eisenstein hat in einem Essay eine psychologische Analyse des gesellschaftlichen Umgangs mit Ungeimpften dargestellt.
Im Folgenden ist eine knappe Zusammenfassung des Artikels sowie Auszüge zentraler Aussagen. Links zu dem gesamten Essay befinden sich am Ende dieses Beitrags.
„Propaganda muss die Verschiebung von Aggressionen erleichtern, indem sie Ziele des Hasses benennt“ ― Joseph Goebbels.
Eisenstein beginnt mit der Schilderung des „Sündenbock“-Motivs. Er beschreibt, wie das Ritual der zielgerichteten Tötung sich von archaischen bis zu modernen Gesellschaften wiederholt, stets mit den gleichen Mustern: das Phänomen des „Menschenopfers“ lässt sich wiederfinden bei der Verbrennung jüdischer Mitmenschen in Basel zur Zeit der Pest; bei der Tötung Osama Bin Ladens, die wohl kaum Amerika vor Terrorismus sicherer gemacht haben dürfte sowie bei der noch immer durchgeführten Praxis der Todesstrafe, die nicht scheut, auch unschuldige im Dienst der sozialen Ordnung hinzurichten.
Dazu reiche aus, so Eisenstein, dass es eine bestimmte Repräsentantengruppe gibt, auf die ein Gefühl sozialen Verfalls kanalisiert werden kann. Hierzu diene aktuell insbesondere die Subkultur der „Impfgegner“.
Auch wenn diese nicht verfolgt und getötet werden, so besteht doch das Phänomen zunehmenden Auschlusses aus der Gesellschaft.
Zentral dabei: Impfen wird dabei zum moralischen Akt erhoben und die Abgrenzung von Ungeimpften geschieht aus einem Ausdruck moralischer Empörung.
Eisenstein schreibt dazu:
“Viele, wenn nicht die meisten Menschen empfangen die Impfung in einer Haltung altruistischen Bürgersinns, nicht etwa, weil sie persönlich Angst haben, Covid zu bekommen, sondern, weil sie glauben zur Herdenimmunität und zum Schutz anderer beizutragen.
Im weiteren Sinne vernachlässigen die, die die Impfung verweigern, ihre Bürgerpflicht ― daher die Bezeichnungen „Abschaum“ und „Arschlöcher“. Sie werden zu identifizierbaren Repräsentanten des sozialen Verfalls, bereit zur chirurgischen Entfernung aus dem politischen Körper, wie Krebszellen, die sich alle bequem im selben Tumor befinden.
[…]
Die Furcht, die bei der Ausgrenzung der Ungeimpften ausagiert, ist großteils keine Furcht vor Krankheit, wenngleich die Krankheit ihr Stellvertreter sein mag. Die Hauptfurcht, so alt wie die Menschheit selbst, ist die vor sozialer Ansteckung. Es ist die Furcht, mit den Ausgestoßenen assoziiert zu werden, codiert als moralische Entrüstung.“
Dies gehe so weit, dass schon die Assoziation mit Ungeimpften und kritischen Stimmen zur Gefahr werden könne. Eisenstein vergleicht dies mit seiner Schulzeit:
„Es erinnert mich auch an meine Schulzeit, als es einen gesellschaftlichen Selbstmord bedeutete, freundlich zu dem seltsamen Kind zu sein, dessen Absonderlichkeit auf einen abfärben könnte. In der weiterführenden Schule wurde diese Ansteckung als „Cooties“ (Läuse) bezeichnet. ― Als junger Teenager war ich das sonderbare Kind und nur sehr mutige Teenager waren freundlich zu mir, während irgendjemand zusah.“
Ihm geht es bei der Analyse vorrangig um das dahinterstehende psychologische Muster, weniger darum, einer Seite explizit Recht zu geben:
„Ich will allerdings auch nicht sagen, dass die Impfgegner recht haben und zu unrecht verfolgt werden. Es geht mir darum, dass ihre Verfolgung einem Muster folgen, das wenig damit zu tun hat, ob sie recht haben oder sich irren, ob sie unschuldig oder schuldig sind.“
Abschließend verspricht Eisenstein einen Ausblick auf eine bessere Zukunft, die in der Transzendenz liegt. Dieser Nachfolgeteil steht aktuell noch aus:
„Es gibt einen anderen Weg und eine bessere Zukunft. Ich werde sie in Teil 4 dieses Essays, auch wenn der Leser schon weiß, welche es sind, wenn nicht in Worten, so doch mit dem Gefühl. Diese Zukunft reicht in die Gegenwart und die Vergangenheit hinein, um sich zu zeigen, wann immer Rache der Vergebung, Feindschaft der Versöhnung, Vorwurf dem Mitgefühl, Verurteilung dem Verstehen, Bestrafung der Gerechtigkeit, Rivalität der Synergie und Verdacht dem Lachen weichen. Transzendenz liegt im menschlichen Wesen.“
Der Artikel erschien zuerst auf Englisch:
https://charleseisenstein.substack.com/p/mob-morality-and-the-unvaxxed
Die obigen Zitate sind aus einer deutschen Übersetzung, die im Rubikon erschienen ist:
https://www.rubikon.news/artikel/die-mobmoral
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