Spiritualität und neue Welt
Von Indrajit Joachim Vogt
“Wir sehen also, dass die zweite Phase, die der spirituellen Essenz, auf der psychischen und der spirituellen Ebene stattfinden wird, in der kollektiven Psyche, im kollektiven Ektoplasma der gesamten Menschheit. Dann wird das globale Denken der Menschheit eine neue Richtung nehmen und das Gemeinschaftsgefühl unter den Menschen stärken.”
Shri P. R. Sarkar, Vortrag
Wege aus der Sackgasse?!?
Im Jahre 2023 breiten sich Kriege und Konflikte auf der Welt immer weiter aus; Ausbeutung, Verarmung und Entrechtung nehmen zu anstatt zu schrumpfen. Und die fast noch schlimmere Nachricht:
Es scheint keine realistische Aussicht auf Besserung zu geben, keine politische Kraft, die einen Aufbruch in eine andere Welt, eine Welt des Miteinander versprechen könnte.
Vielmehr herrscht ein heilloses Durcheinander der Standpunkte und Ideologien. Die einst klar unterscheidbaren politischen Lager – links vs. rechts, konservativ vs. fortschrittlich, ökologisch vs. ökonomisch, Regierung vs. Opposition – haben sich über die Jahre komplett verschoben und splittern weiter auf.
Woher soll die Kraft für einen tiefgreifenden Wandel kommen, für eine Abkehr von Eigennutz hin zu Gemeinschaftlichkeit, von Gier zu Liebe?
Es braucht einen Gamechanger und der kann nicht aus dem gleichen Topf emporsteigen, in dem sich gerade alle gegenseitig die Köpfe einschlagen.
Jenseits des Tellerrands
Ohne einen qualitativ neuen Impuls ist die Schaffung gesunder Gesellschaftsstrukturen innerhalb der kommenden Jahre oder Jahrzehnte einfach nicht vorstellbar bzw. umsetzbar. Schauen wir also über den Tellerrand des politischen Alltagsgeschäfts.
Was könnte dieser Faktor X sein, der das Denken und Empfinden der Menschen von Grund auf bereichern und erneuern kann?
Es ist die vernachlässigte spirituelle Natur des Menschen und die Kraft, die ihr innewohnt. Ich habe die philosophisch-wissenschaftlichen Hintergründe für eine solche Aussage auf dieser Webseite ausführlich dargestellt. Welche Auswirkungen auf gesellschaftliche Prozesse dies haben kann, beschreibe ich im folgenden.
Spirituelle Impulse bewirken auf der persönlichen Ebene subtile, aber tiefgreifende Veränderungen, sie bereichern das Leben mit besserer Gesundheit, innerer Harmonie und Güte – und diese Effekte können durch regelmäßiges Üben wie Meditieren systematisch gestärkt werden. Darüber gibt es inzwischen hunderte akademische Studien.
Ließe sich dieses Phänomen auch auf den gesellschaftlichen Kontext übertragen? Um das Eingangszitat des P. R. Sarkar zu verstehen, müssen wir einen weiteren Aspekt beleuchten: die Synergieeffekte, die innerhalb von Gruppen entstehen.
Individuum->Gruppe->Gesellschaft: Die Macht der Synergien
Viele kennen die unglaubliche Euphorie, die in spontanen Gruppen und größeren Menschenansammlungen entstehen kann – im Fußballstadion, im Konzertsaal, bei politischen Kundgebungen usw.
Die kollektiven mentalen Energien erzeugen Gefühle und Stimmungen in einer neuen, intensiven Qualität, die sich mit hohem Tempo ausbreiten und die Teilnehmer der gesamten Gruppe erfassen – ein Schwarmeffekt.
Das Mitfiebern beim Spiel der eigenen Mannschaft ist auf dem heimischen Sofa mit einer Tüte Chips in der Hand eben etwas völlig anderes als das kollektive Beben auf den Rängen des Stadions. Hier – und das ist nur eines von vielen Beispielen – wird ein gemeinsames psychisches Energiefeld erzeugt, das eigenen Gesetzen gehorcht und individuelle Impulse übersteigt.
Leider sind solche Phänomene nicht immer positiv, wie etwa bei Massenpaniken oder bei Gewaltexzessen gegenüber Minderheiten durch die Mehrheitsbevölkerung. Umso wichtiger wird es, die Prozesse gut zu erforschen und zum Positiven zu nutzen.
Kollektive Psyche: Gruppenprozesse hoch 2
Im gesamtgesellschaftlichen Kontext bewegt sich Gruppendynamik in eine ganz neue Dimension. Das ist zunächst einmal keine Selbstverständlichkeit, sind wir doch gewohnt, räumlich getrennte Individuen als isoliert und unabhängig voneinander zu betrachten.
Doch angesichts der modernen Kommunikationswege kann die gesellschaftliche Dynamik auch von weiträumigen Gruppenprozessen kaum unterschätzt werden.
Es gibt ohnehin vieles, das die Menschen innerhalb einer Gesellschaft eint und was sie von anderen Gesellschaften unterscheidet. Nehmen wir als Beispiel irgendeine Nation. Meist ist die Sprache ein gemeinsames Identifizierungsmerkmal, kulturelle Bräuche usw.
Das individuelle Denken ist eingebettet in die gewachsenen sprachlich-kulturell geprägten Denkmuster der jeweiligen Gesellschaft. Doch die modernen sozialen Medien verleihen dieser vorhandenen Kohärenz eine unglaubliche Dynamik, indem sie nicht nur Informationen, sondern politische Stimmungen und Sentimente, Sympathien und Antipathien, in Echtzeit transportieren.
So können wir die Gesellschaft als einen “Superorganismus” begreifen, ein Begriff, der im frühen 20. Jahrhundert aus der Erforschung von Ameisenkolonien entstand und auf die menschliche Gesellschaft übertragen wurde.
Der gesellschaftliche Organismus
Ausverkauf von Toilettenpapier? Jogger mit Maske? Öffentliche Hetze gegen Millionen von Impfskeptikern (die am Ende mit ihrer Kritik durchweg Recht behielten, dies aber nie zugestanden bekamen)?
Während der Coronakrise bildeten sich in kürzester Zeit zwei Lager: das der Befürworter und das der Gegner der Regierungsmaßnahmen.
Die Spaltung reichte bis hinein in Familien, Freundeskreise und Vereine, sie war eine Frontalattacke auf das gesellschaftliche Miteinander – und dieser Dynamik konnte sich kaum jemand entziehen. Die Massenmedien heizten die hysterische Stimmung an und wer sich gegen die offizielle Meinung stellte, musste mit schlimmen Konsequenzen rechnen.
Die erzeugten Gruppensentimente zerstörten zwischenmenschliche Beziehungen und führten zu den eingangs erwähnten hysterischen Reaktionen.
Einmal entfacht, entfaltet kollektive Hysterie eine Eigendynamik, die sich aus individuellen Beweggründen nicht befriedigend erklären lässt. Hier wirkt ein übergeordneter sozialer Mechanismus und Sarkar nennt ihn die kollektive Psyche. [1]
Fassen wir zusammen. Die Betrachtung von Gesellschaften als synergetisches Ganzes erklärt psychologische Massenphänomene besser als wenn wir sie als Ansammlung unabhängiger Individuen sehen.
Die modernen internetbasierten Kommunikationswege sind die Nervenbahnen des kollektiven Körpers der Gesellschaft. Die durch sie transportierten modernen Narrative bzw. Informationen und Stimmungen hinterlassen ihre Wirkung direkt in der kollektiven Psyche.
Diese Tatsache birgt einerseits, wird sie gezielt eingesetzt, großes Zerstörungspotential, wie bspw. die Steigerung der Kriegsbereitschaft in der Bevölkerung. Doch warum sollte sie nicht ebenso für die gesellschaftliche Erneuerung nutzbar sein?
Die gesellschaftliche Bedeutung von Spiritualität
Die drei Bereiche Körper/Psyche/Spirit sind nicht klar voneinander getrennt, sondern eher als Kontinuum zu verstehen, in dem Impulse aus allen Bereichen laufend interagieren.
Und so geht es nachfolgend weniger um die Ebene des reinen Spirit, sondern um den Übergangsbereich zwischen Psyche und Spirit, in dem die Impulse aufeinander einwirken und erfahrbar werden. Wie vollzieht sich dieser Prozess im Einzelnen? [2]
Spirituelle Gruppenerfahrungen
Wo eine intensive Meditation im heimischen Wohnzimmer zu einer günstigen Stunde ein starkes (kleines) Schwingungsfeld erzeugt, entsteht ein um ein Vielfaches stärkeres Schwingungsfeld bei der gemeinsamen Meditation innerhalb einer Gruppe.
Auch hier verbinden sich die individuellen mentalen Energien zu einem synergetischen Ganzen und strahlen umso stärker auf den Einzelnen zurück. Dies ist eine typische Gruppenerfahrung und die geistige Fokussierung der Teilnehmenden auf das Große Innere Selbst schafft auf natürliche Weise ein starkes Gemeinschaftserlebnis.
Die Erfahrung zeigt, dass innerhalb einer solchen meditativen Gruppe natürliche menschliche Unterschiede wie Sprache, kultureller oder sozialer Hintergrund wie auch vereinzelte persönliche Ressentiments tendenziell zurücktreten.
Das Gemeinsame tritt in den Vordergrund. Dies ist vielleicht das wichtigste psychologische Element für eine bessere Welt. Doch hat gemeinsames Meditieren auch eine Wirkung nach außen?
Kollektive Spiritualität als sozialer Katalysator?
Trotz der beschriebenen Gruppendynamik in meditativen Zirkeln bleibt doch die Außenwirkung der erzeugten Schwingungsfelder nach außen, also in die Gesellschaft hinein, fraglich.
Immerhin gibt es starke Gegenargumente: Ein Land wie Indien mit einer großen und noch immer lebendigen spirituellen Tradition müsste ein Musterbeispiel für soziale Harmonie und Gerechtigkeit sein – das Gegenteil ist der Fall.
Anderes Szenario: trotz Yogastudios in jedem Städtchen und wachsender Popularität und Akzeptanz von Meditationspraktiken in den Industrieländern hat sich an sozialer Ungleichheit oder an der Zahl kriegerischer Auseinandersetzungen nicht wirklich etwas verbessert.
Ist diese angebliche spirituelle Kraft also am Ende doch nur Wunschdenken? Oder können wir aus den genannten Beispielen etwas lernen und weitere Aspekte erkennen, auf die es in diesem Prozess ankommt? Dazu mehr weiter unten.
Nach vorn denken
Nun, so etwas wie eine “ganzheitliche Soziologie” ist sicher noch Zukunftsmusik. Um die Wirkung kollektiver spiritueller Impulse auf die Gesellschaft genauer zu untersuchen bräuchte es Forschung, die es derzeit kaum gibt.
Wir sind auf Indizien angewiesen, auf subjektive Erfahrungen mit der spirituellen Kraft und vielleicht ist da auch einfach ein innerer Impuls, ein gutes Gefühl, das keine Logik oder Wissenschaftlichkeit braucht, um in diese Richtung zu gehen.
Versuchen wir also, die Dinge zusammenzufassen und lassen die Mosaiksteinchen als Ganzes wirken. Also, was wissen wir – oder was ist so plausibel, dass es sich lohnt in diese Richtung weiter zu gehen?
- Spirituelle Praktiken wie Meditation wirken sich positiv auf den Gesamtzustand eines Menschen aus.
- In Gruppen gemeinsam ausgeführt, entwickeln spirituelle Praktiken eine Synergiekraft, die auf die Individuen zurückwirkt.
- Gruppendynamik, gleich ob spiritueller Natur oder nicht, bekommt im gesamtgesellschaftlichen Kontext eine neue Qualität. Sie bestimmt das öffentliche Klima maßgeblich; sie kann gelenkt und manipuliert werden.
- Folgerung: Gemeinschaftlich gelebte Spiritualität kann das kollektive Denken nachhaltig zum Guten beeinflussen.
Spiritualität als Kult, Essenz, Mission
P. R. Sarkar beschreibt drei Phasen im Prozess der Verwirklichung neohumanistischer Werte.
-
- Erste Phase: Spiritualität als “Kult”, als gelebte, zelebrierte Kultur und Lebensart, die Menschen persönlich und in ihrem Sozialleben voranbringt.
Meditation, Yogaübungen und andere Praktiken legen die Grundlagen für die persönliche Entwicklung, während Gemeinschaftsprojekte (lokale Genossenschaften, spirituelle Veranstaltungen u.v.m.) Ausdruck eines respekt- und liebevollen kreativen Miteinander sind. Im Kern solcher spirituell-kulturellen Trends steht die Bewusstseinsentwicklung der Menschen. Es ist vorstellbar, dass weltweit Gemeinschaften entstehen, die sich an diesen Prinzipien orientieren. Dies ist ein unerlässlicher Aspekt der angestrebten gesellschaftlichen Erneuerung. - Zweite Phase: Spiritualität als “Essenz”, in der die kultivierte und zelebrierte Spiritualität ihre geistigen Früchte trägt und derart an Kraft gewinnt, dass sie in die menschliche Gesellschaft hineinstrahlt und zu einem Teil des kollektiven Denkens wird.
- Dritte Phase: Spiritualität als “Mission”, in der die spirituelle Verwirklichung ihren Höhepunkt erreicht und die menschliche Gesellschaft in neue Höhen von Prosperität auf allen Ebenen des Daseins trägt.
- Erste Phase: Spiritualität als “Kult”, als gelebte, zelebrierte Kultur und Lebensart, die Menschen persönlich und in ihrem Sozialleben voranbringt.
Fußnoten:
[1]
Am 21. März 1983 klagt in einer Schule in Arraba, Westjordanland, eine 17-jährige palästinensische Schülerin über Atemnot und Schwindel, weitere sechs Schülerinnen kommen innerhalb der nächsten zwei Stunden hinzu.
Bis zum folgenden Tag werden insgesamt 60 Personen im örtlichen Krankenhaus behandelt. Es wird zunächst ein Giftgas als Ursache vermutet, da einige Schülerinnen meinen, es hätte nach Schwefelwasserstoff gerochen (Geruch von “faulen Eiern”). Die Suche nach der Quelle bleibt jedoch erfolglos.
Zu einer zweiten Welle kommt es fünf Tage später in Dschenin – diesmal sind 367 Personen betroffen, wieder hauptsächlich Mädchen, dann jedoch auch männliche Jugendliche und vier israelische Soldaten, nachdem die Medien von einem mysteriösen Auto berichten, das mit starker Rauchentwicklung durch die Stadt gefahren sein soll. Die Welle ist nach drei Tagen wieder vorbei.
Bei einem dritten Ausbruch, weitere fünf Tage später, sind im entfernten Hebron am Ende 987 Personen von Schwindel, Bauch- und Muskelschmerz oder Ohnmacht betroffen. Diese Welle dauert 14 Tage.
So weit die Geschehnisse. Das Besondere dabei: es ließen sich in Blut- und Urinproben keinerlei Nachweise und keine Hinweise auf toxische Auslöser der Symptome feststellen. Es wird deshalb allgemein davon ausgegangen, dass der Auslöser eine Massenhysterie war.
Diese löste in den betroffenen Personen den sog. Nocebo-Effekt aus, bei dem die Erwartung oder die Angst vor einer Krankheit eben jenes Krankheitsbild hervorrufen kann: ein “negativer Placebo-Effekt”.
[Quelle: wikipedia.org, Stichworte “Arjenyattah”, “Nocebo-Effekt”)
Wie konnte es zu dieser Massenhysterie kommen?
- Es liegt nahe, die Angst vor dem vermuteten Giftgas als Auslöser zu sehen.
- Die lokalen Medien spielten eine bedeutende Rolle dabei – sie waren voll von den Ereignissen, jedenfalls in der zweiten und dritten Welle (in der ersten Welle war es das begrenzte schulische Umfeld, in dem sich die Nachrichten blitzschnell verbreiteten).
- Die psychische Anspannung im von Gewaltkonflikten gezeichneten Westjordanland ist ein fruchtbarer Nährboden für Angst. Wenn die Nerven dauerhaft unter Spannung stehen, macht der Verstand einen Rückzieher; kleinste Ereignisse lösen einen Sturm von Emotion und Kurzschlussreaktionen aus.
[2]
Die rein spirituelle Seinsebene ist jenseits von Raum und Zeit, jenseits auch psychischer Eindrücke und damit jenseits der Erfahrbarkeit. Dazu schreibt Sarkar wie folgt:
Das ekstatische Glücksgefühl, das auf den Zustand völliger Leere [in der spirituellen Seinsebene] folgt, ist der Beweis für deren Existenz und die Grundlage dafür, fest an diesen Zustand zu glauben.” [aus P. R.Sarkar, Ananda Sutram 1/24]
Dies ist jedoch für die meisten von uns eine ferne Vorstellung, beginnt doch die Reise zu den spirituellen Erfahrungen in Körper und Psyche und in einer tiefen Meditation brandet eine Woge des Glücks aus der spirituellen Ebene in die psychische Ebene hinein.
Die meisten inneren Erfahrungen finden tatsächlich in dem bereits erwähnten Übergangsbereich zwischen Psyche und Spirit statt: auf der psycho-spirituellen Ebene.
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Wir danken dem Autor für die Erlaubnis zur Veröffentlichung dieses Textes.
Dieser Artikel erschien zuerst auf cosmicdance.de:
https://cosmicdance.de/art/48/spirituelle-kraft
Der Inhalt des Artikels entspricht der Meinung des Autors und nicht notwendigerweise der Meinung der Redaktion.
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