Universale Reisefreiheit.
Ein Plädoyer für die Abschaffung des Visa-Systems.
von Amritesha Elias Rolf |18.07.2022
„Reisen ist tödlich für Vorurteile, Bigotterie und Engstirnigkeit, und viele unserer Leute haben es deshalb dringend nötig. Breite, gesunde, wohltätige Ansichten über Menschen und Dinge kann man nicht erwerben, indem man sein ganzes Leben lang in einer kleinen Ecke der Erde vegetiert.“
Mark Twain[i]
Wie funktioniert das Visasystem?
Grundsätzlich sind für die Erteilung von Visa die Auslandsvertretungen beziehungsweise Botschaften im Zielland verantwortlich.
In der Regel werden Visa gemäß der geplanten Aktivität im Zielland ausgestellt. So gibt es also Touristenvisa, Arbeitsvisa, Studienvisa, etc. Auch sind viele Visa zeitlich begrenzt auf 90 Tage.[ii]
Die genauen Formalia und Kosten können aber global variieren. So gibt es für den europäischen Schengenraum bestimmte Reiseregelungen: Um innerhalb des Schengenraums zu reisen, wird kein Visum benötigt. Um von außerhalb in den Schengenraum einzureisen für weniger als 90 Tage, wird ein Schengenvisum (80€) benötigt, ansonsten ein nationales Visum (75€).[iii]
Auch der Grad der Reisefreiheit schwankt erheblich je nach Land. Es hängt von politischen Vereinbarungen ab,
- In welche Länder Staatsangehörige ohne Visum reisen können
- Bei welchen Ländern sofort bei der Einreise ein Visum ausgestellt wird
- Bei welchen Ländern ein Visum benötigt wird.
Nach Angaben der Bundeszentrale für politische Bildung durften Anfang 2017 deutsche Staatsangehörige in 159 Staaten reisen, ohne ein Visum zu beantragen beziehungsweise mit sofortiger Ausstellung bei der Ankunft. Damit liegt Deutschland weltweit vorne; es wird also klar, dass deutsche Staatsangehörige in dieser Hinsicht ungemein privilegiert sind.
Umgekehrt aber zeigt sich ein anderes Bild:
Deutschland verlangt bei Personen aus 92 Staaten kein Visum und liegt damit auf Rang 48 von 99. Damit wird eine deutliche Asymmetrie deutlich zwischen Privilegien deutscher Staatsangehöriger und der Einreiseoffenheit des deutschen Staates.[iv]
Die Ungerechtigkeiten des Visasystems
Aus dem obigen Abschnitt wird klar, dass einige Länder einen hoch privilegierten Status aufweisen, was Reisefreiheit angeht. Andere Länder hingegen sind sehr viel mehr eingeschränkt. Insbesondere Menschen aus afrikanischen oder südasiatischen Ländern haben erheblich begrenztere visafreie Reisemöglichkeiten als die Menschen in Europa oder Nordamerika.
Zum Teil führen außerdem aufwändige, langwierige und bisweilen kostspielige Visaverfahren dazu, dass Reisen in bestimmte Länder nur mit großen Schwierigkeiten möglich ist, oder auch gar nicht.
Denn insbesondere die Kosten für Visa stellen für ärmere Menschen eine große Reisehürde dar. So fordert etwa Kanada für die Einreise türkischer Staatsangehöriger um die 600$ für das Visum – umgekehrt sind es lediglich 60$.[v]
Auch können Visa aus politischen Gründen gar ganz abgelehnt werden.
Reisefreiheit als ein Menschenrecht
Die Freiheit, sich überall auf der Welt ungehindert zu bewegen, stellt ein grundlegendes Menschrecht dar.
Zudem widerspricht das System von Einreisebeschränkungen beziehungsweise -hürden dem Gedanken der globalen Menschheitsfamilie.
Obwohl es selbstverständlich kulturelle Unterschiede zwischen einem Franzosen, einer Russin oder einem Senegalesen gibt, so sind doch alle Menschen letztlich im Innern gleich – wir teilen alle die gleichen Bedürfnisse nach Nahrung, Nähe, Liebe usw.
Die Reisefreiheit zu beschränken beziehungsweise das Reisen durch Visa drastisch zu erschweren bedeutet, künstliche Trennungen aufzubauen. Es bedeutet, einem Paradigma von „wir“ und „den anderen“ zu folgen.
Verstehen wir die Menschheit als fundamental eins, so ist klar: Jeder Mensch sollte sich überall auf der Welt ungehindert bewegen können. Denn alles auf dieser Welt gehört uns allen.
Zu dieser Idealvorstellung muss allerdings ergänzt werden, dass sie eine gerechte und stabile Weltordnung voraussetzt. Menschen sollten in ihrem Heimatsland sicher und mit allem Wesentlichen versorgt sein. Große Flüchtlingsströme aufgrund von Krisen, Naturkatastrophen, Kriegen etc. müssen dennoch sinnvoll geleitet und mit einer Bemühung verbunden werden, Probleme im Herkunftsland zu lösen.
Auch der konsumorientierte Massentourismus in vielen Ländern stellt sicherlich eher eine pervertierte Form der Reiselust dar. Eine Visafreiheit fördert sicherlich den Tourismus; dieser sollte aber nicht auf der Ausbeutung natürlicher Ressourcen (z.B. in Form von großen Hotelanlagen oder Clubs) basieren und kulturellen Austausch ermutigen statt eine Segregation zwischen Tourist*innen und der lokalen Bevölkerung zu etablieren, wie es allzu häufig der Fall ist.
Aktuelle Visakontroversen
Neben den allgemeinen Problemen im Visasystem möchte ich außerdem auf einige konkrete Beispiele aufmerksam machen.
Ein sehr aktuelles Beispiel ist etwa der Kosovo. Bürger*innen im Kosovo können derzeit nicht oder nur mit sehr besonderen Ausnahmen in umliegende Länder wie Serbien oder Bosnien-Herzogowina reisen, da die Ausweise der Kosovaren in diesen Ländern nicht anerkannt werden.[vi]
Zudem bleibt der Kosovo das einzige Land im Westbalkan, für das Visapflicht besteht, um in den Schengen-Raum zu reisen, was es für Kosovaren sehr schwer macht, nach Mittel- und Westeuropa zu reisen. Um auf diesen Missstand aufmerksam zu machen, haben Aktivist*innen, Wissenschaftler und Menschen in humanitärer Arbeit kürzlich einen Appell an die EU abgesetzt, die Visapflicht für Kosovaren aufzuheben.
Ein weiteres Beispiel hängt zusammen mit der Umstellung von Präsenz- auf Onlinestudium im Rahmen der Corona-Entwicklungen. Zunächst haben die USA gedroht, nunmehr nur noch online Studierenden die Visa zu entziehen.[vii] Später hat auch die deutsche Bundesregierung angekündigt, keine Visa mehr für Online-Studierende an deutschen Hochschulen auszustellen. Beide Fälle blieben nicht ohne Kritik.[viii]
Immer wieder entsteht durch die Verweigerung von Visa auch im kulturellen Bereich Frust. Künstlerinnen und Künstler aus dem Ausland werden nicht selten die Visa verwehrt aus der Befürchtung heraus, diese würden nicht mehr in ihr Heimatland zurückreisen, sondern bleiben.
In der Tat sind ebensolche Fälle durchaus vorgekommen. Aber es bleibt die Frage, warum das überhaupt unerwünscht ist?
Warum gibt es überhaupt ein Visasystem?
Visa dienen grundsätzlich dem Zweck der Einreiseüberwachung und -kontrolle. Durch das Visasystem weiß ein Land, wie viele Menschen woher und zu welchem Zweck wann in das Land kommen und es wieder verlassen. Zugleich kann dieses Land Einfluss darauf nehmen, zu welchen Kosten, Konditionen etc. das passiert.[ix]
Eine große Rolle dabei spielen sicherlich Sicherheitsbedenken. So sollen etwa Schmuggel, Schwarzarbeit und illegale Einwanderung durch Visa- und Passkontrollen verhindert werden.
Dennoch dürfte diese Gruppen einen nur kleinen Teil derjenigen abbilden, die durch Visa Reiseschwierigkeiten bekommen. Aus den obigen Ausführungen wird klar, dass allzu häufig der künstlerische, akademische oder kulturelle Austausch in Form von Tourismus durch hohe Kosten oder politische Agenden blockiert wird.
Das Visasystem bleibt in vielen Fällen ein träges Konstrukt, das den Austausch und die Kooperation der Menschen auf diesem Planeten verlangsamt und unnötig erschwert. Dieser Kollateralschaden wiegt meines Erachtens schwerer als jegliche Sicherheitsbedenken.
Schritte zur Förderung der Reisefreiheit
Mögliche und notwendige Maßnahmen zur Verbesserung der Reisefreiheit variieren sicherlich je nach Land.
In Europa ist beispielsweise die Errichtung des Schengenraums 1985 ein großer Fortschritt gewesen. Dass Staatsangehörige Frankreichs bis nach Polen reisen können oder Deutsche nach Italien, ohne Visa oder auch nur den Pass vorzuzeigen, lässt sich wirklich als Segen beschreiben.
Der Umgang mit dem Kosovo stellt allerdings einen schwarzen Fleck für die Reisepolitik der EU dar. Die Benachteiligung der Kosovaren durch harte Visabeschränkungen der EU muss schnellstmöglich aufgehoben werden.
Eine Welt mit völlig offenen Grenzen hieße, das Schengenprinzip überall anzuwenden: Keine Visa, keine Passkontrollen, freie Grenzübertritte überall.
Das mag einigen Angst einjagen. Unter der Bedingung einer stabilen und gerechten Weltordnung allerdings wäre dieser Schritt mehr als angebracht.
Wenn Menschen nämlich in ihrem Heimatland grundsätzlich versorgt und zufrieden sind, besteht kein Anlass zur Einreise aus Not in ein anderes Land. Universale Reisefreiheit kann dann als unschätzbares Gut dazu beitragen, Synergien zwischen allen Völkern und Kulturen herzustellen.
Schon jetzt gibt es viele Stimmen, die genau das etwa für die USA fordern: Open Borders würden, so heißt es, die einzige Möglichkeit darstellen, Tod, Leiden und Chaos zu beenden, die durch die amerikanische Immigrationspolitik verursacht würden.[x]
[i] Zit. nach: https://theplanetd.com/freedom-to-travel-never-take-it-for-granted/
[ii] https://visa-applications.org/news/purpose-of-visas/
[iii]https://www.auswaertiges-amt.de/de/service/visa-und-aufenthalt/visa/207794#content_0
[iv] https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/globalisierung/52792/reisefreiheit/
[v] https://theplanetd.com/freedom-to-travel-never-take-it-for-granted/
[vi] https://europeanwesternbalkans.com/2021/07/05/abolishing-visa-regimes-is-not-only-about-traveling-but-also-about-basic-human-rights/
[vii] https://www.daad.de/de/der-daad/kommunikation-publikationen/presse/pressemitteilungen/daad-und-hrk-kritisieren-visa-neuregelung-in-usa/
[viii] https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/deutsche-visa-bestimmungen-auslaendische-studenten-koennen-nur-eingeschraenkt-einreisen-16904902.html
[ix] https://visa-applications.org/news/purpose-of-visas/
[x] https://www.fff.org/2021/08/20/the-meaning-of-open-borders/
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