Redaktion | März 2, 2021
Was dir Politiker nicht über den Inzidenzwert sagen.
Die Gesellschaft starrt wie gebannt auf den SARS-CoV-2-Inzidenzwert und unterwirft sich blind dieser wenig aussagekräftigen Zahl.
von
Wolfram Meyerhöfer
Noch vor ziemlich kurzer Zeit kannte das Wort kaum jemand. Heute beherrscht es unser aller Leben: die „Inzidenz“, also die Anzahl der neu erkrankten — oder besser: unlängst positiv auf Corona getesteten — Menschen innerhalb eines Zeitraums. Das Wort soll wissenschaftlich klingen und zugleich ein bisschen bedrohlich: „Vorfall“. Eine von Politikern locker in die Runde geworfene, anscheinend willkürliche Zahl wird da schnell zum Fetisch, vor dem ein ganzes Volk in die Knie gehen muss: 50 oder 35 oder 10. Dabei wird weder der Kontext gesehen — zum Beispiel Vergleichszahlen aus den Vorjahren — noch wird die Kausalität wirklich seriös untersucht — wann ist Corona wirklich die Ursache für Todesfälle? Schon gar nicht werden jene Faktoren beleuchtet, die unbedingt gegen eine strenges Hygiene-Regime sprechen, gegen die fortgesetzte Vertreibung des Lebens aus dem Leben. Denn Lebensfreude in Kombination mit begrenztem Viruskontakt hätte zu jener kollektiven Immunstimulanz führen können, die den meisten Menschen jetzt so schmerzlich fehlt.
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Ist Ihnen schon aufgefallen, dass etwa die Hälfte der Deutschen Artikel liest, in deren Überschrift das Wort „Inzidenz“ erscheint? Diese Überbetonung des Begriffs kann man sicher mit Fug und Recht als kulturelle Deformation oder als kollektive Perversion bezeichnen.
Eigentlich haben ja die Mathematiker die Oberhoheit über den Begriff Inzidenz: Er bezeichnet die Tatsache, dass ein Punkt auf einer Geraden liegt. Es geht also um Zugehörigkeit. Doch auch die Medizin und mit ihr die Virologie kennen diesen Begriff. Da die Virologie die neue Mathe ist, stellt der Online-Duden nun folgende Begriffserklärung an die erste Stelle:
„Inzidenz: Anzahl der neu auftretenden Erkrankungen innerhalb einer Personengruppe von bestimmter Größe während eines bestimmten Zeitraums“.
Die „Personengruppe“ sind die Deutschen plusminus ein paar Millionen, die hier sonst noch so leben. „Hier“ ist das Staatsgebiet, dessen Fläche ist der einzige Zahlenwert, der wirklich halbwegs bekannt ist — spielt aber keine Rolle bei den Rechnungen. Der Inzidenz-Zeitraum für das Corona-Virus sind 10 Tage, dann gilt man abrupt als virenfrei oder man ist verstorben. Die Zahl der Virenfreien und der Verstorbenen liegt zwischen 0 und 83 Millionen.
Das Inzidenzspiel und die magischen Zahlen
Während der Duden von „Erkrankungen“ spricht, zählt das Robert Koch-Institut (RKI) nicht dudengerecht, denn es zählt positiv Getestete und Erkrankte zusammen, sodass sie nicht mehr unterscheidbar sind. Das RKI unterscheidet also in seinen öffentlichen Statistiken nicht zwischen „wir finden im Körper eines Menschen Genschnipsel eines Virus“ und „dieser Mensch ist erkrankt“ — obwohl dies die Debatte um das Virus deutlich verbessern könnte und auch seit fast einem Jahr angemahnt wird. Dies entspricht immerhin dem DDR-Fremdwörterbuch von 1977, wo unter Inzidenz „Einfall, Vorfall“ steht.
Der West-Brockhaus von 1989 kennt Inzidenz nicht als medizinischen Begriff, aber das zugehörige „Deutsche Wörterbuch“ vermerkt „das Eintreten (eines Ereignisses), Vorfall“. Und in der Tat tritt etwas ein, wenn man positiv getestet wird — allerdings seltener etwas Medizinisches, zwingend aber etwas Administratives, nämlich die Anordnung einer Quarantäne.
Jegliche politische Entscheidung wird derzeit mit dem Inzidenz-Wert begründet. Im Sommer galten 50 als Ziel, dann wurden plötzlich bereits ab 35 Maßnahmen eingeleitet, dann wurde die magische 100 für neue Maßnahmen benutzt, dann 200. Irgendein hilfloser Politiker, der tatkräftig erscheinen will, erfindet immer wieder neue Zahlen. In meiner Heimatstadt setzte der Oberbürgermeister zum Beispiel einfach die Zahl 300, ab der Kitas geschlossen werden. Diese Zahlen basieren immer auf der Behauptung, dass „die Bevölkerung“ mit ihrem Verhalten eine Verantwortung für die Zahlen trüge.
Die Begründungen für die Wahl der Zahlen sind weitgehend beliebig. Die Mutter aller Inzidenzwerte — die 50 — ist im entspannten Sommer entstanden, in dem der Inzidenzwert in meiner Stadt ungefähr 6 betrug. Die 50 kann am treffendsten als Protokoll eines kollektiven Bauchgefühls in einer Art „Schaulaufen der dicken Eier“ von christlichen Kanzlerkandidat/innen beschrieben werden. Behauptet wurde, die 50 würde die Infrastruktur des Gesundheitssystems an ihre Grenzen führen — eine Idee, die heute — nach einem zwischenzeitlichen Wert von über 200 — nur noch ein müdes Lächeln hervorruft.
Die neuen Inzidenzwerte folgen der ästhetischen Idee des Vielfachen. Die 300 als Warnung an das böse Volk entsteht, weil 6 mal 50 gleich 300 ist. Ich würde meinem Oberbürgermeister aber gern mitteilen, dass 8 mal 50 gleich 400 ist, und auch dies wäre ein ästhetischer Fixationspunkt für die Schließung der Kitas. Dieses vage Ineinanderschieben von Zahlenmystik mit Sprachspiel und Bauchgefühl bildet die Logik der Inzidenz-Werte als Basis politischer Entscheidungen perfekt ab.
Was Zahlen erzählen: Tote
Der Mathematikunterricht, den wir alle während unserer Schulzeit durchlaufen, soll uns eigentlich nicht nur das Rechnen beibringen. Ziel ist der mathematisch mündige Bürger. Wir alle sollen fähig werden, zahlenhafte Argumentationen so lange und so tiefgründig zu befragen, bis wir entscheiden können, was die Zahlen uns bezüglich unserer jeweiligen Frage eigentlich erzählen und inwieweit sie uns Entscheidungshilfen geben.
In diesem Sinne muss man leider feststellen, dass die gängigen Corona-Zahlen uns kaum eine Entscheidungshilfe geben, wenn wir politische Maßnahmen legitimieren oder delegitimieren wollen.
Wahrscheinlich ist es auch nicht mehr möglich, hilfreiche Zahlen zu produzieren. Dazu folgen einige Beispiele.
Wir hören und lesen gerade viele Argumentationen, die mit steigenden Fallzahlen argumentieren. Allerdings liegt hier eine „Messung ohne Eichung“ vor. Es wurde früher ja fast niemand auf irgendwelche lungenrelevanten Viren getestet. Wir haben keinerlei Wissen darüber, wie sich in normalen Zeiten im Herbst und Winter die Anzahl von positiv getesteten Virenträgern entwickelt. Es könnte sein, dass wir gerade eine schwache — oder eine normale oder eine schlimme — Virensituation erleben. Noch nie wurde erfasst, wie viele Corona-Viren, wie viele Influenza-Viren und wie viele andere Viren in der Bevölkerung vorliegen und wie schnell Mutationen sich ausbreiten.
Zudem kämpfen alle Viren im Wirt permanent um die Vorherrschaft — und wir wissen nichts darüber, wie die Dominanz bestimmter Virenstämme in diesem Kampf sich in Testergebnissen widerspiegelt. Niemand kann mich widerlegen, wenn ich behaupte, dass bei 1,3 Millionen Tests pro Woche bei gefährlichen Grippeviren Inzidenzen von 900 — oder von 32 — schon immer vorhanden waren. Ebenso kann niemand jemanden widerlegen, der behauptet, dass eine Inzidenz von über 50 eine so gefährliche Situation anzeigt, dass man die Grundrechte von Menschen einschränken darf. Eine Behauptung, die nicht widerlegbar ist, sollte aber nicht als wissenschaftlich gesichert bezeichnet werden und sollte dann auch nicht als Grundlage von politischen Entscheidungen dienen.
Solche Fragen der Eichung von Bevölkerungs-Messungen sind schöne Fragen für den wissenschaftlichen Diskurs, der sie in aller Ruhe bearbeiten sollte — im politischen Diskurs sind solche Fragen nicht sinnvoll diskutierbar. Das Parlament von Indiana hat im Jahr 1897 ohne Gegenstimme (!) den Wert der Zahl mit 4 neu festlegt. Das Ausrufen eines wünschbaren Inzidenzwertes durch Politiker/innen hat ungefähr dieselbe diskursive Qualität, und auch die Parlamentarier von Indiana hatten meinungsstarke wissenschaftliche Berater.
Auch bei den Todeszahlen handelt es sich um eine Messung ohne Eichung. Wir kennen zwar die früheren Zahlen von Toten im Kontext einer Grippe oder einer Lungenentzündung, aber wir können diese Zahlen nicht mehr sinnvoll mit den jetzigen Zahlen vergleichen.
Als vor vielen Jahren meine Großmutter in einem Pflegeheim starb, da beklagte meine Tante, dass man sie nicht ins Krankenhaus gebracht, sondern die Töchter zum Abschiednehmen gerufen hatte. Heute würde man meine Großmutter testen — und sie ins Krankenhaus bringen, damit sie eventuell länger lebt. Mit einem positiven Test wäre sie dann statistisch ein Covid-19-Opfer. Vielleicht war sie ein Influenza-Opfer oder ein Corona-Opfer. Wir wissen nicht, woran sie gestorben ist — und wir werden es auch nie erfahren, und auf dem Totenschein steht einfach „Altersschwäche“.
Ebenso lässt sich nicht feststellen, wie viele der Covid-19-Toten in den Pflegeheimen noch einige Wochen länger hätten leben können, wenn man ihnen Besuch von ihren Nächsten erlaubt hätte. Wer viel mit alten Menschen zu tun hat, der weiß, dass technokratische Lösungen für sie nie gute Lösungen sind — alte Menschen sind fragil wie fest im Leben wie im Sterben.
Von den 1 Million Toten in Deutschland im Jahr 2020 waren etwa 34.000 positiv auf Sars-Cov-2 getestet, das ist etwa jeder dreißigste. Wenn wir sieche Menschen massenhaft testen, dann müssen wir ohnehin damit rechnen, dass wir einen bestimmten Anteil an positiven Testresultaten erhalten. Hinzu kommt, dass wir kollektiv unseren Anspruch an die Umstände von Sterben und Sterbeverhinderung verändert haben.
Es gab ja bereits bisher jene Menschen, die bei gesundheitlichen Problemen ins Krankenhaus gehen — und andere Menschen, die dem Anklopfen des Todes auf andere Weise begegnen. Offensichtlich hat das letzte Jahr bezüglich dieser Sterbekulturen zu mannigfachen Verschiebungen geführt. Wenn die alte Mutter hustet und es geht ihr schlecht, dann sagt die Tochter einmal mehr: „Mama, lass dich lieber mal testen.“ Und wenn der Test positiv ist, dann sagt der Hausarzt einmal mehr: „Gehen Sie ins Krankenhaus, ich will die Verantwortung nicht übernehmen, wenn Sie sterben.“ Die Sterbezahlen protokollieren also gleichzeitig das Wirken des Virus und das Wirken von kulturellen Verschiebungen.
Politik kann Viren gefährlicher machen
Hinzu kommt, dass in Deutschland Politik und Bevölkerung in einem gemeinsam Kraftakt Sars-Cov-2 künstlich gefährlicher gemacht haben, als es eigentlich ist: Es ist eine Binsenweisheit, dass Viren — auch die Corona-Viren — im Winter gefährlich, im Sommer hingegen weitgehend ungefährlich sind. Im Sommer breiten sie sich trotzdem aus, aber das Immunsystem des Menschen kann kraftvoller dagegen arbeiten, weil das Immunsystem im Sommer stärker ist und weil es gleichzeitig mit geringeren Virenmengen konfrontiert wird.
Deshalb entwickeln sich über den Sommer Immunisierungen, falls wir uns im Sommer anstecken. Deshalb gab es im Sommer auch kaum Covid-19-Patienten in Krankenhäusern und deshalb findet man im Sommer auch kaum Influenza-Patienten in Krankenhäusern. Die Bevölkerung tritt im Winter dann viel stärker immunisiert den Viren der letzten Wintersaison entgegen.
Dieser Immunisierungszyklus wurde nun durch Verbot von Großveranstaltungen, von Tanzveranstaltungen und ähnlichem künstlich aufgehalten. Ohnehin ist erstaunlich, wie schnell die medizinischen Deutungsmuster sich verändert haben.
Noch vor einem Jahr galten Veranstaltungen, auf denen man glücklich ist — wie Tanzen, Fußball und Konzerte — als Stählung des Immunsystems, weil die Kombination von Viren und Glück das Immunsystem stärkt.
Plötzlich gilt dasselbe Ereignis als Gefahr und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich hier lediglich Lustfeindlichkeit und ein Kult der Freudlosigkeit aus dem kollektiven Unterbewusstein schälen. Schließlich wäre es auch in einer Pandemie eine zu den westlichen Demokratien passende politische Handlungsoption, dem einzelnen Menschen die Entscheidung darüber zu überlassen, ob er die Gefährdung durch Viren oder die Gefährdung durch Freudlosigkeit für lebensbedrohender hält.
Die Einführung der Maskenpflicht im Frühjahr erscheint dann als eine Art Zusatzposse. Sie kam ja erst, als der Frühling da war und wir unser Immunsystem in Corona-Viren hätten tränken müssen. Da die Masken nun aber verfügbar waren, wurden sie auch genutzt. Erst hinterher wurden dann die kollektiven Deutungsmuster entwickelt, die das Maskentragen als sinnvoll konstruierten.
Was Zahlen erzählen: Krankenhausüberlastung
Ein weiterer Strang des Corona-Mainstream-Narrativs ist die Überlastung des medizinischen Systems. Wenn man Zahlen verstehen will, dann muss man sehr präzise anschauen, wie sie entstehen. Das ist oftmals im Kleinen gut sichtbar. Ich nutze als Beispiel meine Heimatstadt Potsdam, Sie können diese Betrachtung in Ihrer Stadt einfach strukturgleich machen.
Potsdam hat ungefähr 180.000 Einwohner und 2 Krankenhäuser mit Intensivbetten. Eines davon wird meist mit 2 Corona-Intensivbetten angegeben. Zentral ist aber das Städtische Klinikum. Für dieses Klinikum wird die Zahl von 16 Corona-Intensivbetten angegeben. Wenn es eng wird, dann werden 4 weitere Betten aktiviert — es lohnt sich einfach nicht, diese Betten permanent zu betreiben. Wenn diese Bettenanzahl nicht reicht, dann werden weitere 4 Betten aktiviert. Für diese insgesamt 24 Betten gibt das Klinikum an, es könnte diese auch personalmäßig bespielen (1). Insgesamt stehen 63 Beatmungsgeräte bereit, also auch sehr viele außerhalb der Intensivstation.
Neben den Angaben über die Corona-Intensivbetten gibt es noch die normalen Intensivbetten. Die Krankenhäuser könnten also zusätzlich zu dem geplanten Corona-Betrieb noch Intensivbetten mobilisieren.
All diese Daten stammen aus den beiden Potsdamer Lokalzeitungen, sind also von hiesigen Journalisten recherchiert. Das Wissen um diese großzügige und flexible Situation hält diese Journalisten aber nicht davon ab, einen alarmistischen Weg der Corona-Berichterstattung zu gehen. Bei einer Belegung von 13 Intensivpatienten vermerkt die „Märkische Allgemeine“, die Lage sei angespannt, die Situation habe sich weiter zugespitzt (2).
Bei 14 Intensiv-Patienten im großen Krankenhaus vermelden die „Potsdamer Neuesten Nachrichten“ unter dem Titel „Lage in den Krankenhäusern spitzt sich zu“, das kleine Krankenhaus mit 2 Betten sei „zu 100 Prozent ausgelastet“ Die Auslastung im großen Krankenhaus wird als Auslastung von 95 Prozent bezeichnet (2). Jeden Tag ist „Potsdam im Corona-Kampf“, und jeden Tag spitzt die Lage sich zu. Irgendwann werden wirklich einmal 25 Betten benötigt, es muss also eines der Nicht-Corona-Intensiv-Betten genutzt werden.
Nun kann man bei 14 von 16 belegten Betten in der Tat von 90 Prozent Belegung sprechen. Allerdings sind 14 von 20 Betten nur 70 Prozent Belegung, 14 von 24 Betten sind nur 58 Prozent Belegung. Welche Zahl soll denn als die „wahre“ Zahl gelten? Wenn ich mit Menschen darüber spreche, dass die Zahlen uns nur sehr begrenzt dabei helfen, die Gefahrenlage einzuschätzen, dann treffe ich immer auf den Glauben, dass die Zahlen „irgendwie schon eine Grundtendenz“ darstellen. Man sieht aber in der konkreten Betrachtung, dass dies keineswegs der Fall ist. Es kann keine bundesweite Statistik geben, die transparent macht, ob in Prenzlau oder Buxtehude zwar 8 Betten in der offiziellen Covid-Bettenstatistik stehen, dann aber noch 3 Intensiv-Betten mobilisiert werden können, notfalls aber auch noch weitere 3 oder 4 — unter Verrenkungen 5 — Betten mobilisiert werden können.
Wenn in Potsdam 90 Prozent Belegung genauso „wahr“ sind wie 58 Prozent Belegung, dann liegt die Wahrheit nicht irgendwo in der Mitte und die Zahlen geben auch keine Tendenz wieder. Wir sehen lediglich, dass die Zahl der Menschen mit Covid-19 in den Krankenhäusern bis Anfang Januar gestiegen ist und seither sinkt.
Wir sehen nicht, dass die Krankenhäuser „vollgelaufen“ sind — Deutschland ist mit Intensivbetten sehr viel besser ausgestattet als viele andere Länder und ist auch in der offiziellen Intensivbetten-Statistik in den Jahren 2020 und 2021 nie in die Nähe einer Überauslastung gelangt — hat diesen Vorteil aber nicht genutzt, um eine entspanntere Corona-Politik zu gestalten.
Zudem liegt auch hier eine Messung ohne Eichung vor: Wie voll waren die Krankenhäuser in den anderen Jahren? Wie überlastet war das Personal? Wir finden vor und hinter den Kameras viele Menschen, die beteuern, dass es noch nie so schlimm gewesen sei. Wir finden hinter den Kameras viele Menschen, die behaupten, dass es nie anders war und dass die Hilferufe des Personals immer unwichtiger waren als die Gewinnanforderungen der Krankenhausbesitzer, in Potsdam kommunale beziehungsweise christliche.
Welcher Inzidenzwert sollte unser politisches Ziel sein?
Wir sehen, dass es gute Gründe dafür gibt, sich von den Zahlen zu emanzipieren. Selbst die hier nur als Beispiele diskutierten „harten“ Zahlen wie Todesfälle und Bettenzahlen erweisen sich als unscharf und als nicht mal in der Tendenz zur Begründung von politischen Entscheidungen tauglich. Hinzu kommt, dass niemand weiß, ob ein Inzidenz-Wert von 50 oder 300 in den Monaten Dezember oder Januar überhaupt erreichbar ist.
Das permanente Bestrafen der Bevölkerung mit neuen Repressionen geschieht unter der Behauptung, dass die Bevölkerung sich falsch verhalten hätte. Dahinter steckt eine technokratische Allmachtsfantasie, der Virologen allerdings schon seit Jahrzehnten anhängen.
Schon immer wünschen sich Virologen eine kontaktlose Menschheit. Sie glauben — und dies ist bereits nicht mehr als eine These — dass Kontaktvermeidung die Ausbreitung von Krankheiten auf Null senken kann. Man muss nur mehrere Meter Abstand halten — 1,5 Meter sind ja nur ein Kompromiss mit der Realität — und alle Kontaktflächen keimfrei halten.
Eine solche sterile Realität eignet sich sehr gut für mathematische Modellrechnungen, weil man von dieser idealen Welt ausgehend einzelne Parameter ändern kann. Man kann dann zum Beispiel die gemeinsame Nutzung von Türklinken ohne Handschuhe erlauben oder den Kuss zwischen zwei Menschen, und dann kann man langsam die idealen Krankenhäuser volllaufen lassen, wo ideales Personal ideale Luftreinigungssysteme regelt.
Wir könnten dann endlich Messungen starten, die uns erlauben, die Wirkung von Masken zu untersuchen, sodass unsere Gerichte endlich die Möglichkeit hätten, evidenzbasiert die Vor- und Nachteile von Masken gegeneinander abzuwägen — wegen der Spätfolgen leider erst in 20 Jahren. Wir könnten endlich Messungen starten, um zu untersuchen, ob wir das öffentliche Tanzen wieder erlauben oder entlang des Vorbildes der iranischen Regierung das öffentliche Tanzen dauerhaft verbieten. Wir könnten endlich Messungen starten, die uns erlauben abzuschätzen, ob Sars-Cov-2 gefährlicher ist als Sars-Cov-3. Zurückgehen in die schmutzige Vergangenheit können wir dann leider immer noch nicht, so dass wir nie wissen werden, ob wir in den letzten Jahren bereits im viralen Siff verkommen sind ohne es zu wissen.
Das mathematische Gegenmodell ist von ebenso reiner Schönheit. Es geht in seinem idealen Anfang von einer Inzidenz von 100.000 Personen pro 100.000 Personen aus. Es sagt also: Der Idealfall ist, dass wir alle infiziert sind. Wenn einer von uns nicht infiziert ist, dann ist das auch o.k., also ist auch ein Inzidenzwert von 99.999 in Ordnung. Wenn zwei von uns nicht infiziert sind, dann ist das ebenso o.k., also ist auch ein Inzidenzwert von 99.998 in Ordnung und so weiter.
Wir sind ein tolles Land, wir haben viel mehr Geld in unser Gesundheitssystem gesteckt als andere Länder, und wir nutzen diese frühere kollektive Klugheit, um ohne virenbezogene staatliche Einschränkungen leben zu können. Wenn ein Krankenhaus voll werden sollte, dann finden wir gemeinsam einen pragmatischen und menschlichen Umgang damit.
Manche von uns werden künftig in der Öffentlichkeit Masken tragen, manche werden einen Waschzwang entwickeln. Manche werden nicht mehr tanzen gehen, manche werden nicht mehr auf Messen gehen. Das werden wir akzeptieren, denn es gibt auch ein Recht auf Furcht. Es gibt aber eben auch ein Recht auf Nichtfurcht.
In uns allen steckt Furcht ebenso wie Nichtfurcht, das ist ebenso gut wie schlecht, ob mit Inzidenzwerten von 50, 300 oder 3.000.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Alle Daten aus: Märkische Allgemeine, 24. Dezember 2020, Seite 13
(2) Märkische Allgemeine, 14. Dezember 2020
(3) Potsdamer Neueste Nachrichten, 15. Dezember 2020, Seite 9
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Redaktionelle Anmerkung: Dieser Artikel erschien zuerst unter dem Titel: Die Mathematik der Angst auf Rubikon.
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